„»Von unten bis ganz nach oben funktioniert das Schulsystem«, schreibt Bourdieu, »als bestände seine Funktion nicht darin, auszubilden, sondern zu eliminieren. Besser: in dem Maß, wie es eliminiert, gelingt es ihm, die Verlierer davon zu überzeugen, dass sie selbst für ihre Eliminierung verantwortlich sind«.¹⁹ Das Prüfungssystem mit seinen gleichen Aufgaben für ungleiche Kinder vermittelt dagegen den durchgeschleusten Bürgerkindern das Gefühl, begründet oben zu stehen, die unteren Klassen später begründet herumzukommandieren – als Staatsbeamter, der den Arbeitsmarkt »flexibilisieren« will und Maßnahmen für »Arbeitsscheue« konzipiert, als Unternehmensberater, der auf dem Rücken der Arbeiterklasse Unternehmen verschlanken hilft, als Manager, der die Beschäftigten überwacht und die Arbeitsprozesse verdichtet, als Banker, der die Kreditwürdigkeit von Lohnabhängigen in Frage stellt, als Journalist, der volkserzieherisch Ratschläge erteilt. Die Schule, so Bourdieu, ist »einer der wirksamsten Faktoren der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung (…), indem [sie] der sozialen Ungleichheit den Anschein von Legitimität verleiht«.²⁰
Ständiger Kampf
Gegen die Verunsicherung und Scham, dass man aus weniger gebildeten Verhältnissen kam und bestimmte Dinge nicht kannte oder noch nicht wusste, die für die Bürgerkinder selbstverständlich waren, weil sie sie am Abendbrottisch aufgeschnappt oder ihre Eltern sie ins Theater, Museum oder klassische Konzert mitgeschleift hatten, während man selbst mit den Onkeln bei »Boh-russja« im Stadion gewesen war. Gegen die daraus resultierenden Selbstzweifel an den eigenen Fähigkeiten, weil man den »Unterschied zwischen Begabung und Faktenwissen nicht kannte«.¹⁷ Gegen die Auffassung, dass man eben nicht so intelligent sei wie die Mitschüler und sich vielleicht tatsächlich mit weniger zufriedenzugeben hatte, so wie die eigenen Freunde im Viertel. Gegen die Scham, nicht die richtigen Neigungen und den »richtigen Geschmack« zu haben. Gegen die empfundene Peinlichkeit angesichts der einfachen Sprache der Verwandtschaft, ihrer Geschmäcker und schlichten Wohnverhältnisse. Gegen die Demütigung, dass man bestimmte Spielzeuge nicht besaß, die die Bürgerkinder mit lässiger Geste vorzeigten, manchmal gar demonstrativ kaputtmachten, bloß um am nächsten Tag mit dem neugekauften Ersatz aufzuschlagen. Gegen die Scham, dass die eigene Kleidung nicht so neu und glänzend war, weil man die alten, vielfach geflickten und verlängerten Klamotten älterer Geschwister oder Verwandter aufzutragen hatte. Gegen die eigenen Selbstzweifel, die aus den ständigen Herabsetzungen und Kränkungen resultierten. Gegen Verdächtigungen und Anfeindungen seitens der Verwandten und Nachbarskinder, die auf die Hauptschule gingen, und ihre Vorwürfe, man halte sich wohl plötzlich für was Besseres und verrate sein Umfeld. Gegen den gefährlichen, weil Isolation provozierenden Impuls, in Arroganz Zuflucht vor diesen Angriffen zu suchen. Gegen die Tatsache, dass man bei den bürgerlichen Lehrern immer höhere Leistungen erbringen musste als die Bürgerkinder, um die gleiche Zensur zu bekommen. Gegen die Wut angesichts dieser Ungerechtigkeit, die aber ständig unterdrückt werden musste, um den Lehrern keinen Vorwand zu geben, einen auszusieben. Gegen den emotionalen Stress und die psychische Anstrengung, sich täglich in einer feindlichen Umwelt zu bewegen. Dort, wo niemand aus dem eigenen Viertel hinging. Wo man niemanden kannte, den man sich zum Vorbild nehmen konnte, während die Kinder aus dem Bürgertum sich ganz selbstverständlich auf dem Gymnasium bewegten. Weil schon ihre Eltern hier gewesen waren. Weil es für sie normal war.“
https://www.jungewelt.de/artikel/383412.die-feinen-unterschiede-bourdieu-und-mein-vater.html
Ständiger Kampf
Gegen die Verunsicherung und Scham, dass man aus weniger gebildeten Verhältnissen kam und bestimmte Dinge nicht kannte oder noch nicht wusste, die für die Bürgerkinder selbstverständlich waren, weil sie sie am Abendbrottisch aufgeschnappt oder ihre Eltern sie ins Theater, Museum oder klassische Konzert mitgeschleift hatten, während man selbst mit den Onkeln bei »Boh-russja« im Stadion gewesen war. Gegen die daraus resultierenden Selbstzweifel an den eigenen Fähigkeiten, weil man den »Unterschied zwischen Begabung und Faktenwissen nicht kannte«.¹⁷ Gegen die Auffassung, dass man eben nicht so intelligent sei wie die Mitschüler und sich vielleicht tatsächlich mit weniger zufriedenzugeben hatte, so wie die eigenen Freunde im Viertel. Gegen die Scham, nicht die richtigen Neigungen und den »richtigen Geschmack« zu haben. Gegen die empfundene Peinlichkeit angesichts der einfachen Sprache der Verwandtschaft, ihrer Geschmäcker und schlichten Wohnverhältnisse. Gegen die Demütigung, dass man bestimmte Spielzeuge nicht besaß, die die Bürgerkinder mit lässiger Geste vorzeigten, manchmal gar demonstrativ kaputtmachten, bloß um am nächsten Tag mit dem neugekauften Ersatz aufzuschlagen. Gegen die Scham, dass die eigene Kleidung nicht so neu und glänzend war, weil man die alten, vielfach geflickten und verlängerten Klamotten älterer Geschwister oder Verwandter aufzutragen hatte. Gegen die eigenen Selbstzweifel, die aus den ständigen Herabsetzungen und Kränkungen resultierten. Gegen Verdächtigungen und Anfeindungen seitens der Verwandten und Nachbarskinder, die auf die Hauptschule gingen, und ihre Vorwürfe, man halte sich wohl plötzlich für was Besseres und verrate sein Umfeld. Gegen den gefährlichen, weil Isolation provozierenden Impuls, in Arroganz Zuflucht vor diesen Angriffen zu suchen. Gegen die Tatsache, dass man bei den bürgerlichen Lehrern immer höhere Leistungen erbringen musste als die Bürgerkinder, um die gleiche Zensur zu bekommen. Gegen die Wut angesichts dieser Ungerechtigkeit, die aber ständig unterdrückt werden musste, um den Lehrern keinen Vorwand zu geben, einen auszusieben. Gegen den emotionalen Stress und die psychische Anstrengung, sich täglich in einer feindlichen Umwelt zu bewegen. Dort, wo niemand aus dem eigenen Viertel hinging. Wo man niemanden kannte, den man sich zum Vorbild nehmen konnte, während die Kinder aus dem Bürgertum sich ganz selbstverständlich auf dem Gymnasium bewegten. Weil schon ihre Eltern hier gewesen waren. Weil es für sie normal war.“
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