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Noreena Hertz: "Das Zeitalter der Einsamkeit"

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“Das Zeitalter der Einsamkeit”

Die renommierte Ökonomin Noreena Hertz über eines der größten Probleme
unserer Zeit

“Das Zeitalter der Einsamkeit” von Noreena Hertz | Video verfügbar bis
28.03.2022 | Bild: hr

Zeit, die einfach so vorübertreibt, Menschen, die einfach so
vorbeiziehen. Kein Echo. Keine Verbindung. Wir leben im Zeitalter der
Einsamkeit, sagt Noreena Hertz. Der Mensch ist dem Menschen… Ja, was
eigentlich?

Noreena Hertz: “Wir sehen uns mittlerweile eher als Konsumenten statt
als Bürger. Als Geschäftemacher statt Helfer. Als Konkurrenten, statt
Verbündete. Und natürlich, so ein Denken bringt uns ganz zwangsläufig
dazu, dass wir uns als Gesellschaft insgesamt isolierter fühlen,
unverbundener und einsamer.”

Einsamkeit als politisches Problem

Noreena Hertz ist Professorin für Ökonomie. Frontfrau der
Globalisierungskritik. Sie lehrt am renommierten University College
London. Und forscht seit Jahren zu Einsamkeit. Für sie eines der
drängenden Probleme unserer Zeit. Eine globale Einsamkeitskrise im
Verborgenen, nennt sie es in ihrem Buch. Es gehe um so viel mehr als
nur um fehlende Nähe und Intimität.

“Für mich ist Einsamkeit genauso politisch wie persönlich”, sagt
Hertz. “Es ist ein existenzieller Zustand. Das Gefühl, nicht nur von
unseren Freunden und unserer Familie isoliert zu sein, sondern auch
von unserer Regierung, von unserem Arbeitgeber. Das Gefühl, unsichtbar
zu sein.”

“Der Neoliberalismus ist uns tief unter die Haut gegangen”

Globalisierung, Verstädterung, zunehmende Ungleichheit, bahnbrechende
Technologien, ein beschleunigtes Dauer-“On”-Leben, größere, auch
erzwungene Mobilität, staatliche Sparmaßnahmen und jetzt auch noch:
Corona. Radikal veränderte Arbeitswelten. Die Finanzwirtschaft heute:
viermal so groß wie die Realwirtschaft. Auf der anderen Seite ein Heer
von Niedriglöhnern. Und eine Mittelklasse in Auflösung. Ja, es gibt
strukturelle Gründe für die Einsamkeit.

“Der Neoliberalismus ist uns tief unter die Haut gegangen”, sagt die
Wissenschaftlerin. “Darum wertschätzen wir als Gesellschaft zunehmend
Qualitäten wie Konkurrenzdenken, Rücksichtslosigkeit und ‘Gewinnen’ –
zu Lasten von gegenseitiger Fürsorge, Mitgefühl, Freundlichkeit. Und
wenn wir nur Qualitäten belohnen, bei denen es um das geht, was ich
erreichen und bekommen kann, dann sind das die Qualitäten, die wir als
Gesellschaft pflegen und reproduzieren. Und das ist, was wir zu einem
Großteil auf der ganzen Welt beobachten können.” Margaret Thatcher
sagte einst: “Wirtschaft ist die Methode. Das Ziel ist, Herz und Seele
zu verändern.” Und genau das ist passiert. Eben das verändert
mittlerweile auch Herz und Seele unserer Demokratien.

Rechtspopulisten spüren den Mangel

Noreena Hertz sagt: “Was meine Recherchen gezeigt haben ist: Menschen,
die sich einsam und isoliert fühlen, wenden sich eher
rechtspopulistischen Politikern zu. Wir sind Geschöpfe des
Miteinanders, dafür geschaffen, mit anderen verbunden zu sein. Was
also passiert, wenn wir einsam sind, ist: unser Körper bringt sich in
einen Alarmzustand – Kämpfen oder Fliehen. Unser Blutdruck steigt,
unser Cortisolspiegel steigt, unser Puls auch. All das signalisiert
unserem Körper: ‘Hör auf einsam zu sein! Geh los und suche deinen
Stamm, die Menschen, mit denen du sammeln und jagen kannst. Sei nicht
allein!’”

"Du gehörst dazu. Du bist wer und nicht niemand.” Rechtspopulisten –
das beschreibt Noreena Hertz eindrucksvoll – spüren den Mangel. Und
setzen ihm quasi-religiöse Veranstaltungen entgegen, schaffen eine Art
Kommunion. Versehen mit dem Versprechen: “Du bist bedeutsam!”. Hertz:
“Rechtspopulisten verwenden ein ganzes Lexikon der Gemeinschaft:
‘wir’, ‘uns’, ‘das Volk’, ‘das vergessene Volk’, ‘ihr, das Volk’. Sie
kreieren und benutzen dieses Vokabular, um sehr sichtbar zu zeigen:
‘Wenn du zu uns kommst, bist du ein Teil von uns’.”

Hannah Arendt beschrieb als Erste den Zusammenhang von Einsamkeit und
einer Politik der Intoleranz – “Verlassenheit” nannte sie das.

“Wir müssen anfangen, Erfolg anders zu messen”

Doch wie kann das “Wir” zurückerobert werden – in einer
fragmentierten, zerfaserten Welt? Mit einem Kapitalismus, der auch auf
Herz und Seele zielt. Aber indem er das Gemeinwohl über alles stellt,
sagt Noreena Hertz. Gemeinschaftsfreundliche Unternehmen bekommen dann
Steuererleichterungen und Prämien. Soziale Berufe hohe Gehälter,
multinationale Konzerne und das obere Prozent werden hart besteuert,
lokale Geschäfte bevorteilt.

“Wenn Regierungen die herrschende Einsamkeit wirklich ernsthaft
verringern wollen und die Menschen wieder in Verbindung miteinander
bringen wollen, dann müssen sie anfangen, Erfolg anders zu messen”,
sagt Hertz. “Traditionellerweise ist das Kriterium, das die
Regierungspolitik bestimmt, das Wirtschaftswachstum. Aber stellen wir
uns vor, stattdessen würden Regierungen sich daran orientieren, wie
einsam sich ihre Bürger fühlen, oder wie sehr sie einander vertrauen.
Wir könnten völlig anders definieren, was Erfolg ist.”

Kulturelle Transformation und umfassende Reformen

Was wir brauchen sind Kathedralen fürs 21. Jahrhundert, sagt Noreena
Hertz. Eine kulturelle Transformation: Öffentliche Räume, Plätze,
Quartiere, in denen unterschiedliche Milieus und Menschen
zusammenkommen. Unterschiede aushalten, Demokratie üben. Solche Orte
sind im effizienzgetriebenen Neoliberalismus zerstört worden. Die
Folge: tote Begegnungen, kontaktloses Leben. Doch man kann
gegensteuern, dafür gibt es in der Geschichte Beispiele. Im Zuge der
Weltwirtschaftskrise erließ Roosevelt für die USA in den 30er Jahren
den “New Deal”: umfassende Reformen zum Wohle der Allgemeinheit.

“Wir brauchen einen neuen ‘New Deal’ für das 21. Jahrhundert”, glaubt
Hertz. “Eine Reihe von umfassenden Wirtschafts- und Sozialreformen,
die dabei helfen, die großen Unterschiede in der Gesellschaft
auszugleichen, die in den letzten Jahren so stark gewachsen sind. Wir
brauchen Reformen, die die Infrastruktur der Gemeinschaft
wiederherstellen. Wir werden nie eine gemeinsame Basis finden, wenn
die Menschen keine Orte haben, an denen sie sich austauschen und
zusammen sein können.”

Als Gesellschaft verlieren wir etwas Grundlegendes, wenn wir uns nicht
mehr um einander kümmern. Wenn wir anderen Menschen immer weniger
begegnen – warum sollten wir dann ihre Rechte und Wünsche
berücksichtigen?
Beitrag: Tanja Küchle

Info-Box: Noreena Hertz “Das Zeitalter der Einsamkeit” 448 Seiten, 22 Euro HarperCollins, März 2021

Stand: 28.03.2021 23:05 Uhr

https://www.daserste.de/information/wissen-kultur/ttt/sendung/sendung-vom-28032021-102.html


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